Donnerstag, 14. Februar 2013

..Spinnerei


Die Bahnhofsuhr schlägt viermal kurz und dreimal lang. Es ist ein regnerischer, nasskalter Mittwochnachmittag. Ich sitze auf dem Hauptbahnhof und starre Leute an. Ich sitze jeden Tag da wenn ich von der Arbeit komme, bringe da im Durchschnitt 30 min meines Lebens zu, eine ganz schön lange Zeit wenn man es addiert. Man sieht viele verschiedene Menschengruppen, also ich bin der Meinung das man so gut wie jeden Menschen in eine Gruppe ordnen kann. Grob gesagt, welche mit langen Nasen, welche mit kurzen Beinen, welche haben Sturmfrisuren, andere sehen aus wie Unterhaltungsakteure  die nächsten sehen sehr schick aus, welche haben grüne Haare, andere gar keine Haare, wieder welche sind chaotisch, andere neurotisch, manche zappeln und zittern dauerhaft. Die Tür geht auf und her rein kommt ein junges Paar, sie redet wie ein Wasserfall und er schlürft mit einem schüchternen Blick neben ihr her, typisch eigentlich. Man sieht viele Szenarien, aller Arten. Manchmal streiten sich welche lauthals, andere schweigen sich an, die haben sich wahrscheinlich nie etwas zu sagen, welche kommen allein und gehen allein und sind wahrscheinlich auch immer allein, sie sehen zumindest nicht sonderlich gesellschaftstauglich aus. Vor ein paar Tagen zum Beispiel sah ich so jemanden stumm in der Ecke stehen, ein junges Mädchen fragte ihn nach der Zeit, erschrocken blickte er sie an, er riss die Augen auf und stotterte nur. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, sein Gesicht bekam eine pur pur ne Farbe. Das einzige was mir in dem Moment in den Sinn kam war Autist, ja so jemand musste autistisch veranlagt sein, anders kann ich es mir nicht erklären.
Ich war gut darin Leute in Schubladen zu stecken, sie sorgsam in das passende Fach zu sortieren, aufgereiht wie Socken lagen sie da, immer griffbereit für eine Geschichte. Ich hatte schöne Geschichten, viele Geschichten, eigentlich waren es mittlerweile schon Millionen, aber erzählt hab ich sie nie. Es waren meine Geschichten, meine Gedanken, meine Schubladen. Ich schätze jeden und alles ein, irgendwann sagte ich mir, würde ich all diese Geschichten irgendwo speichern. Ich hätte das schon längst, nur könnte sie dann jemand lesen und das wollte ich nicht, ich wusste ja nicht mal ob es strafbar ist, was ich hier tue. Hier sind viele Dinge strafbar. Früher, so erzählte es mir der älteste Schaffner den ich kenne, sollte das nicht so gewesen sein, früher konnte man noch nicht alles kontrollieren, es sei wohl technisch nicht möglich gewesen. Ja, das erzählte mir Erwin. Erwin war wie bereits erwähnt sehr alt, er war relativ füllig um genau zu sein sogar ganz schön dick. Sein Haar war grau und er hatte einen dichten Vollbart, die Spitzen waren schon fast weiß und schimmerten immer so schön in der Sonne. Seine Augen leuchteten saphirblau. Früher als er noch seiner Arbeit nachging musste er wohl rote Haare gehabt haben denn seine Freunde nannten ihn immer Pumuckel. Ich wusste nie was ein Pumuckel ist, bis ich ihn fragte. Er antwortete das sei ein kleiner Kobold aus einer schönen Kindergeschichte mit knall roten, durcheinander gewühlten Haaren. Ich hörte ihm gerne zu und sah ihn gerne an, er erzählte so schöne Geschichten und irgendwie sah er sehr gemütlich aus, ich fühlte mich wohl bei ihm. Das passiert sehr selten da alle Leute so kurz angebunden sind, so unpersönlich. Erwin war das nicht, er hatte Zeit, er hatte auch Zeit für mich. Sein Lebensmotto, dass er mir immer versuchte nahe zu bringen war, sei kreativ, lass deine Gedanken kreativ sein. Dein Gedankengut ist das einzige was dir niemand nehmen kann, was du hüten kannst, was geheim ist. Genau aus diesem Grund wollte ich niemals meine Geschichten erzählen, am Ende hört es noch der Sensor. Nimm deine Worte um dich auszudrücken, sie sind dein Mittel, deine Persönlichkeit. Ich nahm ihn sehr ernst, weil ich der Meinung war das er viel wusste, das er sich auskannte im Leben, vor allem kannte er ein anderes Leben, eins ohne den Sensor. Jeder hier hatte einen, es gab niemanden ohne. Ich persönlich war mit diesem Ding auf die Welt gekommen, kannte also nichts anderes, trotz dessen hatte ich eine Antisympathie gegen diese Ding. Jeder war gekennzeichnet durch eine Nummer. Wir waren alle nur eine verfluchte Nummer. Überwachung war an der Tagesordnung, immer und überall wussten sie wo jeder einzelne von uns ist. Andere störte das nicht, mich hätte es auch nicht stören dürfen, ich kannte ja eigentlich nichts anderes. Doch durch die Geschichten von Erwin, mit den vielen blauen blubber Wolken, den langen grünen Wiese, den eckigen Autos die noch auf einer Art Gummireifen fuhren und wo nur die Flugzeuge fliegen konnten. Wo man sich Zuckerwatte auf den Jahrmarkt kaufen konnte ohne das, eine absurde Tabelle einen erhöhten Zuckerwert anzeigte. Oh man,  muss das, ein Leben gewesen sein. Da wo es noch analoge Technik gab, diese schönen alten Radios und diese riesigen Fernsehgeräte wo man noch einen extra Kasten brauchte um etwas zu sehen. Da wo alles noch kleine runde Knöpfe hatte. Ich habe es auf Bildern gesehen und es faszinierte mich auf Anhieb. Ein Schlag, ich zuckte zusammen. Es schlug viertel vier. Ich war wieder in süffisanten Träumen versunken. Ich schüttelte kurz meinen Kopf, fuhr mir mit der rechten Hand nur meine Haare, langsam wurde das Bild vor meinen Augen wieder klar und deutlich. Ich war ein Tagträumer, ein Dichter, Geschichtenerzähler, Mensch in Schubladen steckender Irrer, der sich Urteile über alle Menschen erlaubte, denen er begegnete und selbst völlig irrational und geistig beschädigt war. Da war sie, eine Frau mit einem Hündchen. Durch die Bahnhofstür kam eine Frau mit einem Spitz. Ich war geschockt, starrte sie mit einem steifen Blick an. Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Fürchterlich aufdringlich. Ich konnte ein leises knacken ihrer Schuhe wahrnehmen, es war sehr laut in der Halle, trotzdem konnte ich nur sie hören. Der kleine Spitz stolzierte ihr arrogant hinterher, wich keinen Schritt von ihrer Seite. Er rümpfte die Nase und schnupperte wild in der Gegend her rum. Es musste viele Gerüche geben, für so eine feine zierliche Nase. Er trug ein seidenmatt schimmerndes rotes Halsband, besetzt mit kleinen Steinchen die weiß glitzerten. Ich stierte immer noch unverändert in die Richtung der Frau. Wie mag wohl ihr Name sein? Meine Gedanken fingen an zu reisen…
 Irgendwas musste an ihr anderes sein…sie sah irgendwie aus als käme sie aus der Vergangenheit, aus der Zeit von der ich immer träumte...

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