Die
Bahnhofsuhr schlägt viermal kurz und dreimal lang. Es ist ein regnerischer,
nasskalter Mittwochnachmittag. Ich sitze auf dem Hauptbahnhof und starre Leute
an. Ich sitze jeden Tag da wenn ich von der Arbeit komme, bringe da im
Durchschnitt 30 min meines Lebens zu, eine ganz schön lange Zeit wenn man es
addiert. Man sieht viele verschiedene Menschengruppen, also ich bin der Meinung
das man so gut wie jeden Menschen in eine Gruppe ordnen kann. Grob gesagt,
welche mit langen Nasen, welche mit kurzen Beinen, welche haben Sturmfrisuren,
andere sehen aus wie Unterhaltungsakteure die nächsten sehen sehr schick aus, welche
haben grüne Haare, andere gar keine Haare, wieder welche sind chaotisch, andere
neurotisch, manche zappeln und zittern dauerhaft. Die Tür geht auf und her rein
kommt ein junges Paar, sie redet wie ein Wasserfall und er schlürft mit einem
schüchternen Blick neben ihr her, typisch eigentlich. Man sieht viele
Szenarien, aller Arten. Manchmal streiten sich welche lauthals, andere
schweigen sich an, die haben sich wahrscheinlich nie etwas zu sagen, welche
kommen allein und gehen allein und sind wahrscheinlich auch immer allein, sie
sehen zumindest nicht sonderlich gesellschaftstauglich aus. Vor ein paar Tagen
zum Beispiel sah ich so jemanden stumm in der Ecke stehen, ein junges Mädchen
fragte ihn nach der Zeit, erschrocken blickte er sie an, er riss die Augen auf
und stotterte nur. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, sein Gesicht bekam
eine pur pur ne Farbe. Das einzige was mir in dem Moment in den Sinn kam war
Autist, ja so jemand musste autistisch veranlagt sein, anders kann ich es mir
nicht erklären.
Ich war gut
darin Leute in Schubladen zu stecken, sie sorgsam in das passende Fach zu
sortieren, aufgereiht wie Socken lagen sie da, immer griffbereit für eine
Geschichte. Ich hatte schöne Geschichten, viele Geschichten, eigentlich waren
es mittlerweile schon Millionen, aber erzählt hab ich sie nie. Es waren meine
Geschichten, meine Gedanken, meine Schubladen. Ich schätze jeden und alles ein,
irgendwann sagte ich mir, würde ich all diese Geschichten irgendwo speichern.
Ich hätte das schon längst, nur könnte sie dann jemand lesen und das wollte ich
nicht, ich wusste ja nicht mal ob es strafbar ist, was ich hier tue. Hier sind
viele Dinge strafbar. Früher, so erzählte es mir der älteste Schaffner den ich
kenne, sollte das nicht so gewesen sein, früher konnte man noch nicht alles
kontrollieren, es sei wohl technisch nicht möglich gewesen. Ja, das erzählte
mir Erwin. Erwin war wie bereits erwähnt sehr alt, er war relativ füllig um
genau zu sein sogar ganz schön dick. Sein Haar war grau und er hatte einen
dichten Vollbart, die Spitzen waren schon fast weiß und schimmerten immer so
schön in der Sonne. Seine Augen leuchteten saphirblau. Früher als er noch
seiner Arbeit nachging musste er wohl rote Haare gehabt haben denn seine
Freunde nannten ihn immer Pumuckel. Ich wusste nie was ein Pumuckel ist, bis
ich ihn fragte. Er antwortete das sei ein kleiner Kobold aus einer schönen
Kindergeschichte mit knall roten, durcheinander gewühlten Haaren. Ich hörte ihm
gerne zu und sah ihn gerne an, er erzählte so schöne Geschichten und irgendwie
sah er sehr gemütlich aus, ich fühlte mich wohl bei ihm. Das passiert sehr
selten da alle Leute so kurz angebunden sind, so unpersönlich. Erwin war das
nicht, er hatte Zeit, er hatte auch Zeit für mich. Sein Lebensmotto, dass er
mir immer versuchte nahe zu bringen war, sei kreativ, lass deine Gedanken
kreativ sein. Dein Gedankengut ist das einzige was dir niemand nehmen kann, was
du hüten kannst, was geheim ist. Genau aus diesem Grund wollte ich niemals
meine Geschichten erzählen, am Ende hört es noch der Sensor. Nimm deine Worte
um dich auszudrücken, sie sind dein Mittel, deine Persönlichkeit. Ich nahm ihn
sehr ernst, weil ich der Meinung war das er viel wusste, das er sich auskannte
im Leben, vor allem kannte er ein anderes Leben, eins ohne den Sensor. Jeder
hier hatte einen, es gab niemanden ohne. Ich persönlich war mit diesem Ding auf
die Welt gekommen, kannte also nichts anderes, trotz dessen hatte ich eine
Antisympathie gegen diese Ding. Jeder war gekennzeichnet durch eine Nummer. Wir
waren alle nur eine verfluchte Nummer. Überwachung war an der Tagesordnung,
immer und überall wussten sie wo jeder einzelne von uns ist. Andere störte das
nicht, mich hätte es auch nicht stören dürfen, ich kannte ja eigentlich nichts
anderes. Doch durch die Geschichten von Erwin, mit den vielen blauen blubber
Wolken, den langen grünen Wiese, den eckigen Autos die noch auf einer Art
Gummireifen fuhren und wo nur die Flugzeuge fliegen konnten. Wo man sich
Zuckerwatte auf den Jahrmarkt kaufen konnte ohne das, eine absurde Tabelle
einen erhöhten Zuckerwert anzeigte. Oh man,
muss das, ein Leben gewesen sein. Da wo es noch analoge Technik gab,
diese schönen alten Radios und diese riesigen Fernsehgeräte wo man noch einen
extra Kasten brauchte um etwas zu sehen. Da wo alles noch kleine runde Knöpfe
hatte. Ich habe es auf Bildern gesehen und es faszinierte mich auf Anhieb. Ein
Schlag, ich zuckte zusammen. Es schlug viertel vier. Ich war wieder in
süffisanten Träumen versunken. Ich schüttelte kurz meinen Kopf, fuhr mir mit
der rechten Hand nur meine Haare, langsam wurde das Bild vor meinen Augen
wieder klar und deutlich. Ich war ein Tagträumer, ein Dichter, Geschichtenerzähler,
Mensch in Schubladen steckender Irrer, der sich Urteile über alle Menschen
erlaubte, denen er begegnete und selbst völlig irrational und geistig
beschädigt war. Da war sie, eine Frau mit einem Hündchen. Durch die Bahnhofstür
kam eine Frau mit einem Spitz. Ich war geschockt, starrte sie mit einem steifen
Blick an. Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Fürchterlich aufdringlich. Ich
konnte ein leises knacken ihrer Schuhe wahrnehmen, es war sehr laut in der
Halle, trotzdem konnte ich nur sie hören. Der kleine Spitz stolzierte ihr
arrogant hinterher, wich keinen Schritt von ihrer Seite. Er rümpfte die Nase
und schnupperte wild in der Gegend her rum. Es musste viele Gerüche geben, für
so eine feine zierliche Nase. Er trug ein seidenmatt schimmerndes rotes Halsband,
besetzt mit kleinen Steinchen die weiß glitzerten. Ich stierte immer noch
unverändert in die Richtung der Frau. Wie mag wohl ihr Name sein? Meine
Gedanken fingen an zu reisen…
Irgendwas musste an ihr anderes sein…sie sah irgendwie aus als käme sie aus der Vergangenheit, aus der Zeit von der ich immer träumte...